Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg:
Ab wann ist Fotografie Kunst?

Foto-Show im MKG

Ein Raum mit Porträtfotografie eröffnet die spektakuläre Foto-Show in Hamburg. Kuratorin Esther Ruelfs erklärt am Eröffnungstag einige der Bildwerke – hier eine Portrait-Reihe.

Die am 20. Dezember 2016 eröffnete Ausstellung ReVision. Fotografie im MKG gibt einen Überblick über den Bestand der Sammlung Fotografie und neue Medien im Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg (MKG), der von der Frühzeit der Fotografie bis in die Gegenwart reicht und heute rund 75.000 Werke umfasst. Bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts öffnet sich das Haus als erstes Museum in Deutschland dem Medium der Fotografie und übernimmt damit eine Vorreiterrolle. Das MKG erwirbt Fotografien als eigenständige Werke, bildet einen Sammlungsschwerpunkt und präsentiert sie ab 1911 in Ausstellungen. Seitdem hat das Museum als einzige Sammlung in Deutschland kontinuierlich gesammelt. ReVision ist das Ergebnis einer Durchsicht der Bestände und einer Neujustierung des Blicks.

Foto-Show in Hamburg

Das Spektrum der Foto-Ausstellung reicht von der Frühzeit der Fotografie bis hin zur Gegenwart.

Das MKG schaut noch einmal, und in manchen Fällen zum ersten Mal, auf seine fotografischen Werke, wobei die Vielfalt und Heterogenität der Sammlung herausgestellt wird und unterschiedliche Anwendungsgebiete auch jenseits der Kunstfotografie beleuchtet werden. In den Fokus rückt Kanonisiertes, Unbekanntes und Wiederentdecktes, darunter die Fotografie als historisches Dokument, als Hilfsmittel der Wissenschaften und als künstlerische Arbeit. In fünf Kapiteln nähert sich die Ausstellung der Sammlung aus verschiedenen Perspektiven und fokussiert auf einzelne Sammlungsschwerpunkte: auf identitätsstiftende Porträts, vermeintlich objektive Reproduktionen, engagierte Bildreportagen für die gedruckte Seite, auf den mit der Malerei wetteifernden Piktorialismus und auf abstrakte Arbeiten, die sich als autonome Kunstform begreifen. All diese Positionen dokumentieren ausgehend vom 19. Jahrhundert, wie die Veränderungen des Mediums darauf Einfluss nehmen, wie wir kommunizieren und gleichzeitig die Bilder, die uns täglich umgeben, bewerten und betrachten.

Portrait: Fotografie als Abbild oder Inzenierung

Die Porträts des Schauspielers Friedrich Haase und die Bildnisse von August Sander markieren die beiden Extreme unterschiedlicher Herangehensweisen der Porträtfotografie: Auf der einen Seite steht die Inszenierung, welche die Persona als wandelbar vorführt und zeigt, dass sie unterschiedliche Rollen einnehmen kann, und auf der anderen Seite steht der Glaube an das Gesicht als Ausdrucksträger einer Persönlichkeit, das bestimmte Charakterzüge wiederspiegelt. Die Mappe des Schauspielers Haase zeigt ihn als Hamlet, als französischen Musiker, als Narziss. Selbstverständlich spielt er, aber wie steht es mit dem Arbeiter aus Bayern, dem Maler, der Stenotypistin und der Jungen Obsthändlerin, die Helmar Lerski in seinen Köpfen des Alltags zeigt und benennt? Zeichnet sich etwas von ihren Berufen in ihren Gesichtern ab? Und wie verhält es sich bei August Sander, der zwölf Bauern und Bäuerinnen in der sogenannten Stammmappe aus seinen Menschen des 20. Jahrhunderts als Individuen zeigt, denen er unterschiedliche Charaktereigenschaften zuschreibt, Der Stürmer oder Revolutionär, Die Weise oder Der Philosoph? Verschiedene Fotografen vertrauen auf den engen Ausschnitt, der Intimität zu dem Porträtieren suggeriert, andere zeigen die Personen in ihrem Umfeld als Mitglieder eines Berufsstandes, einer sozialen Schicht, einer Familie oder als Outsider außerhalb der Gesellschaft. Wer sind wir und wer wollen wir sein? Die Fotografie trägt maßgeblich zur Selbstbestimmung der einzelnen Person und der Identitätsfindung der Gesellschaft bei.

Bild-Reportage

In den 1960er Jahren sehen viele Fotografen in der politischen Reportage eine Möglichkeit, auf gesellschaftliche Missstände hinzuweisen und soziale Ungerechtigkeit anzuklagen

Reportage: Fotografie als gedrucktes Bild

Mit der technischen Entwicklung, die es ermöglicht Fotografien zu drucken, entstehen in den 1910er Jahren die illustrierten Zeitschriften und mit ihnen der Bildjournalismus als neues Genre der Fotografie. Die Bildreportagen wollen unterhalten und aufklären. In den 1960er Jahren sehen viele Fotografen in der politischen Reportage eine Möglichkeit, auf gesellschaftliche Missstände hinzuweisen und soziale Ungerechtigkeit anzuklagen. Damit verbunden ist die Hoffnung, die Welt zu verändern. Der Reportagefotograf arbeitet im Kollektiv, nicht er allein entscheidet über die Bildaussage, auch der Autor des Texts, der Bildchef und der Grafiker der Zeitschrift nehmen Einfluss. Trotzdem bleibt die gedruckte Zeitschriftenseite bis in die 1970er Jahre für viele Fotografen der Ort ihrer Wahl, denn nirgendwo sonst können sie ein ähnlich großes Publikum erreichen. Die fotografischen Abzüge, die dem Bildredakteur als Arbeitsmaterial dienen, haben später ihren Weg in die Museen gefunden, wo sie als Bilder nach ästhetischen Gesichtspunkten gesammelt werden. Um sie der musealen Umdeutung zu autonomen Kunstwerken wieder zu entziehen und das Augenmerk auf ihre Aufgabe als berichtendes und sichtbarmachendes Medium zu richten, werden die Reportagefotografien hier in ihrem ursprünglichen Publikationskontext ausgestellt. Mit dem Fernsehen als neuem Leitmedium der 1970er Jahre, schrumpften die Bildstrecken in den Magazinen und gleichzeitig wuchs die Skepsis gegenüber der kommerziellen Verwertung der Fotografie als massenmedialer Ware. Auch theoretisch geriet die humanistische Fotografie in eine Krise: Man warf ihr vor, dass sie, wenn auch mit gutem Vorsatz, die gezeigten Opfer ein weiteres Mal fotografisch ausbeute, und so die Hierarchie einer von weißen Männer dominierten Welt wiederspiegele.

 

Kunst

Je größer das Format einer Fotografie, desto ähnlicher erscheint die Fotografie der Malerei und desto eher ist dem Objekt Kunststatus zuzusprechen.

Piktorialismus: Fotografie als Kunstwollen

Ist Fotografie Kunst? Diese Frage beantwortet gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Bewegung der Kunstfotografie, auch Piktorialismus genannt, mit einem deutlichen Ja. Sie möchte die Fotografie von den Fesseln objektiver Dokumentation befreien und gleichzeitig als Kunst neben der Malerei etablieren. Die Hamburger Schule um die Gebrüder Hofmeister bildet eines der Herzstücke der Bewegung. Gleichzeitig formieren sich Zentren in London, Paris und Edinburgh, das Wiener Kleeblatt um Heinrich Kühn und in New York die Photo-Secession um Alfred Stieglitz und Edward Steichen. Bereits 1916 erwarb das MKG mit der Sammlung des Hamburgers Ernst Wilhelm Juhl einen einzigartigen Bestand piktorialistischer Arbeiten, der heute ein Highlight der Sammlung bildet. Kunstfotografen wie Alvin Langdon Coburn und James Craig Annan fertigen Abzüge von den Negativen David Octavius Hills und Robert Adamsons an, den „alten Meistern“ der künstlerischen Fotografie, die bereits in den 1840er Jahren Porträts auf Salzpapier herstellten. Ohnehin ist die perfekte Umsetzung eines Silbergelatineabzugs, eines Pigmentdrucks oder eines farbigen Gummidrucks für die Kunstfotografie um 1900 ebenso relevant, wie Fragen nach Schärfegrad, Tonwerten und Lichtwirkung. In zahlreichen Studien erproben die Piktorialisten die Stimmung im Bild um den perfekten Abzug und damit ein perfektes Kunstwerk zu erschaffen. Auch die Größe einer Aufnahme ist Ausdruck des Kunstwollens: Je größer das Format einer Fotografie, desto ähnlicher erscheint die Fotografie der Malerei und desto eher ist dem Objekt Kunststatus zuzusprechen. Originale Rahmungen betonen diesen Effekt und weisen die Werke als dekorative Kunst aus. Es lässt sich attestieren: Size does matter!

Ist Fotografie Kunst? Diese Frage beantwortet gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Bewegung der Kunstfotografie, auch Piktorialismus genannt, mit einem deutlichen Ja.

Reproduktion: Fotografie – als Hilfsmittel?

Abbildungen von Skulpturen und kunsthandwerklichen Gegenständen werden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts produziert und mit Erfolg als exakte Dokumentationen eines Gegenstandes vermarktet. Sie treiben die Kunstgeschichte als wissenschaftliche Disziplin voran und bringen Forschern ihr Anschauungsmaterial auf den Schreibtisch. Gleichzeitig dienen Aufnahmen von Stillleben oder Pflanzen wie jene Constant Alexandre Famins als Études d’après nature, sie sind Vorlagen für Malerei und Kunsthandwerk. Aus heutiger Perspektive faszinieren die frühen Fotografien aufgrund ihrer Aura. Doch sie gestatten auch Einblicke in vergangene Reproduktionspraktiken. Die unterschiedlichen Hintergründe der Fotografien – heller oder dunkler, monochrom oder mit Farbverlauf – verweisen ebenso wie die gewählte Perspektive auf variierende Standards der Reproduktionstechnik. In der Frühzeit der Fotografie werden Skulpturen für den zeitgenössischen Betrachter fotografisch verdoppelt, wofür der eine „richtige“ Blickwinkel gesucht wird. In den 1920er Jahren umrunden und interpretieren Fotografen wie Walter Hege ihre Gegenstände dann fotografisch – und verwischen so die Grenzen reiner Reproduktion. Auch die Sammlungen von Museen werden früh fotografisch inventarisiert. Wilhelm Weimar, Mitarbeiter von Justus Brinckmann, dem Gründungsdirektor des MKG, fotografiert um 1900 die Bestände des MKG und bannt sie auf Glasnegative. Sie bilden ein archivarisches Ordnungssystem, in dem sie als Referenten auf ihre Objekte verweisen. Die Facetten fotografischer Reproduzierbarkeit werden in zeitgenössischen Positionen dann selbst zum Thema.

Foto-Show

Das Spektrum der Ausstellung reicht von der Frühzeit der Fotografie bis zur Gegenwart.

Abstraktion: Fotografie als autonome Kunst

In den 1920er Jahren betonen Fotografen den autonomen Charakter der Fotografie. Was ist fotografisch an der Fotografie, was sind ihre Mittel? Es gilt die Fotografie vom vermeintlichen Zwang Wirklichkeit abzubilden, zu befreien. In der Dunkelkammer experimentieren Fotografen wie Christian Schad und Lázló Moholy-Nagy jenseits jeder Gegenständlichkeit mit den medieneigenen Mitteln, mit Licht und Form, und reflektieren so die Fotografie selbst. Es entstehen Schadografien und Fotogramme, die im kameralosen Verfahren auf lichtempfindlichem Papier die Grenzen des eigenen Mediums hinterfragen. In den 1950er Jahren greifen die Protagonisten der Subjektiven Fotografie um Otto Steinert auf die Experimente der 1920er Jahre zurück und zeigen die Fotografie als variables Medium, das nur sich selbst verpflichtet ist. Es wird mit Negativdrucken und der Materialität von Filmen und Fotopapieren experimentiert, Aufnahmen werden mit Klebstoff übergossen oder es werden mit Hilfe von Licht und Chemie abstrakte Grafiken erschaffen. Andere Fotografen gehen den umgekehrten Weg: Sie finden ihre Motive in der Realität und abstrahieren Formen und Strukturen durch neue Perspektiven und ungewöhnliche Ausschnitte. Motivisch wird dabei ebenso auf Flakfeuer, Schattenspiele und serielle Reihungen zurückgegriffen, wie auf klassische Motive, etwa das Meer und die Wolken.

Fotos

In einer abgetrennten Abteilung untergebracht sind kostbare Daguerreotypien, die das Museum schon um 1900 angekauft hat.

Sammlungskatalog

Die Ausstellung wird begleitet von einem umfangreichen Sammlungskatalog im Steidl Verlag, der Einblick gibt in eine der bedeutendsten Museumssammlungen der Fotografie in Deutschland. Die Publikation blickt aus verschiedenen Perspektiven auf die vielfältige und gewachsene Sammlung und stellt sie in elf Kapiteln anhand ausgewählter Gattungen wie Porträt-, Architektur- oder auch Reisefotografie vor. Sie untersucht zentrale Diskurse, etwa den Wunsch nach einer präzisen und objektiv dokumentierenden fotografischen Erfassung oder die im 19. Jahrhundert begründeten Rollen der Fotografie als Hilfsmittel der Wissenschaft und als Medium der Archivierung. Gleichzeitig widmet sich der Sammlungskatalog der wandelnden Materialität der Bilder, beispielsweise ihrer Rahmung. Einzelne Kapitel spiegeln Sammlungsschwerpunkte wieder, so etwa den hochkarätigen Bestand internationaler piktorialistischer Fotografie oder die in den 1980er Jahren zusammengetragene Sammlung japanischer Aufnahmen.

 

Veranstaltungsort: Museum für Kunst und Gewerbe (MKG), Hamburg
Termin: 21. Dezember 2016 bis 17. April 2017

 

 

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